Der Rückzieher

Sigmar Gabriel macht den Rückzieher: Aber wer zieht wirklich zuerst?

Sigmar Gabriel macht den Rückzieher: Aber wer zieht wirklich zuerst?

Die Enthüllungen um Sigmar Gabriels Verzicht auf die Kanzlerkandidatur und seinen Rücktritt als SPD-Vorsitzender zeigen die Zwänge von Abstimmung und Zusammenspiel in Politik und Medien. Zehn Beobachtungen, wie die Nachricht mich persönlich erreichte.

1. Lang heißt es, die SPD will ihren Kandidaten am 29. Januar vorstellen – auch Gabriel verweist bei allen Medienanfragen stoisch auf dieses Datum.
2. Am Montagnachmittag kursiert dann in der „dpa“ eine Meldung, der SPD-Vorstand sei für Dienstag plötzlich zu einer Kanzlerkandidatenabsprache nach Berlin gerufen worden. Die „Deutsche Presse-Agentur“ leitet das daraus ab, dass Hamburgs Regierender Bürgermeister Olaf Scholz einen wichtigen wichtigen Termin in der Hansestadt abgesagt hat.
3. Noch während sich die SPD-Spitzen zu dem Treffen bewegen, kursiert am Dienstagnachmittag im Netz die Meldung: Gabriel verzichtet und tritt zurück. Das ist die aktuelle und exklusive „Stern“-Story, die ausnahmsweise schon am Mittwoch den Verkauf des Magazins ankurbeln soll. Komisch daran: Das Ganze berichtet zunächst nicht „Stern.de“, sondern „Meedia.de“, ein Portal, in dem vor allem Journalisten und Medienmacher über Journalismus und Medien lesen. Zur gleichen Zeit auf „Stern.de“ als große Geschichte: Ein Interview mit Gina-Lisa Lohfink. Offenbar hat „Meedia“ die „Stern“-Titelseite vorab zugeschickt bekommen. Vom „Stern“ selbst? Schön blöd, wenn die ganze Aufmerksamkeit sich dann zunächst „Meedia“ widmet.
4. Jetzt wird es skurril: Während die Journalisten nach einer Bestätigung der „Stern“-Geschichte lechzen, sind die SPD-Oberen offenbar noch gar nicht informiert.
5. Noch vor „Stern.de“ veröffentlicht „Zeit.de“ die Meldung: Gabriel tritt nicht an. Auch die „Zeit“ habe eine Geschichte vorbereitet, erscheint jedoch erst am Donnerstag. In der „Zeit“-Redaktion werden sie sich gedacht haben: Wenn die „Stern“-Titelgeschichte schon auf dem Markt ist, informieren auch wir schnell über unsere. Darin steht außerdem, dass Gabriel jetzt Außenminister werden will.
6. Der Sprecher des derzeitigen Außenministers und Bundespräsidenten in spe, Frank-Walter Steinmeier, heißt Martin Schäfer und ist zu dem Zeitpunkt auf dem Weg zu einer Veranstaltung in Kiel. Das trifft sich. Aber: Auf Nachfrage von KN-Nachrichtenchef Florian Hanauer kann er nichts bestätigen.
7. Schließlich stellt „Stern.de“ die Meldung online, auch Herausgeber Andreas Petzold twittert: Gabriel hat also offenbar mit zwei Blättern, die in der Woche vor der eigentlich angedachten Verkündung des SPD-Kanzlerkandidaten erscheinen, ausführlich über Verzicht und Rücktritt gesprochen. Dass er am Dienstag plötzlich den SPD-Vorstand einberufen musste, um die Mitglieder darüber zu informieren, war für ihn erst der zweite Schritt. Dass Martin Schulz Kandidatur außerdem so holprig durchsickern musste, ist sicherlich alles andere als ein geschmeidiger Start. „Behauptungen, wonach es in der SPD langweilig sei, muss man als böswillige Verleumdung zurückweisen“, twittert Parteivize und SH-SPD-Chef Ralf Stegner. So kann man es auch ausdrücken.
8. Schließlich entschuldigt sich auch noch „Bild.de“-Chefredakteur Julian Reichert auf Twitter, dass sein Medium falsch gelegen habe. Kurz ist nicht klar, was er meint: „Bild.de“ hatte sich bereits auf Gabriel als Kandidaten festgelegt. Gemerkt hatten sich das ohnehin nicht so viele. „Bild“ halt. (Am Abend veröffentlicht „Bild.de“ eine Dokumentation des Falsch-Liegens.)
9. Schmankerl am Abend: „Turi“ (noch so ein Ding, in dem Journalisten über Journalisten…) lobt am Abend im Newsletter den „Stern“ für seine exklusive Geschichte. Dass der direkte Konkurrent, „Meedia“, darüber zuerst berichtet hatte, verschweigt er.
10. Zu guter Letzt treten am Abend Gabriel und Schulz vor die Presse, übergeben quasi offiziell den Staffelstab. Alle befragten SPD-Politiker loben den uneigennützigen Verzicht Gabriels, als hätten sie das lange gewusst.

Am Tag danach überblicken das Prozedere auch andere aus der Branche: Das Ulrike Simon vom „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ beispielsweise beschreibt, wie der „Stern“ dem „Spiegel“ sein Fest zum 70. Geburtstag mit der Geschichte versaute – und wie sich der Verlag Gruner und Jahr dafür selbst feierte.

Bernd Ulrich, Schreiber der „Zeit“-Geschichte, twittert etwas beleidigt über eine eigentlich vereinbarte Deadline von 20 Uhr. Die „Süddeutsche Zeitung“ dröselt aber auf, was ohnehin das Problem der „Zeit“ gewesen wäre – der „Stern“ hatte eben seinen Erscheinungstag vorgezogen. Erster kann eben nur einer sein.

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