Archiv für den Monat September 2012

Skandinaviens politische Verirrungen

Spätestens seit Anders Breiviks Attentaten in Oslo und auf Utoya sind in den skandinavischen Gesellschaften die Debatten um politische Extreme wieder vollends entbrannt. Gerade hier, wo sich soziale Wohlfahrtsstaaten auch in den Programmen der Parteien der Mitte und Konservativen widerspiegeln, erlangen rechtspopulistische Gruppierungen extremen Zuspruch.

Ist es notwendig, dagegen einzuschreiten, und wenn ja: Wie?

Ich möchte diese Fragen anhand von zwei Beispielen beantworten:

1)    Gestern Nacht verübten zwei 18-Jährige einen Sprengstoffanschlag auf ein jüdisches Gemeindezentrum im südschwedischen Malmö. Auch wenn der politische Hintergrund der Tat noch nicht einwandfrei geklärt ist, sind die Schuldzuweisungen in der Öffentlichkeit freilich bereits in vollem Gange. Wenigstens in einem sind sich aber alle einig: Die Tat darf nicht geduldet werden und hat in keiner Gesellschaft Platz. Die Notwendigkeit für demokratische Aufklärung gegen politische Intoleranz zu sorgen, ist also in jedem Fall gegeben.

2)    Dann möchte ich ein gutes Beispiel geben, wie NICHT auf solcherlei politische Strömungen reagieren sollte: Nämlich mit einer zwanghaften Begradigung der Erziehung. Im Kulturhuset (Kulturzentrum) in Stockholm hat der künstlerische Leiter Behrang Miri am Dienstag für einen Eklat gesorgt, indem er die „Tim und Struppi“-Comics aus der Kinderbibliothek entfernen ließ – mittlerweile sind sie wieder zurück und Miri im Kreuzfeuer der Kritik.

Seine Begründung war: Die Bücher enthielten rassistisch gefärbte Darstellungen anderer Nationalitäten; dumme Afrikaner mit Bananen, Araber auf fliegenden Teppichen und Wasserpfeife rauchende Türken. Kinder könnten diese Bilder aus der Kolonialzeit nicht in den entsprechenden zeitlichen Kontext einordnen.

Sofort waren die Stimmen zur Wahrung der künstlerischen Freiheit und Bevormundung der Erziehung aus allen Ecken und Enden zu hören: Am einfachsten und doch deutlichsten meldete sich Kulturministerin Lena Adelsohn-Liljeroth zu Wort: „Welcher Schritt ist nach der Aussortierung von Büchern der nächste?“

Welche Konsequenzen stattdessen gezogen werden sollten, hat Norwegens Ministerpräsident Jens Stoltenberg schon vor einem Jahr beim Trauergottesdienst im Dom Oslos formuliert. Sein Zitat wurde nach den Anschlägen zum geflügelten Wort in Skandinavien und sollte jedem, der von den aktuellen Ereignissen hört oder sie liest, zurück ins Gedächtnis schießen:

„Vi er fortsatt rystet av det som traff oss, men vi gir aldri opp våre verdier. Vårt svar er mer demokrati, mehr åpenhet og mer humanitet. Men aldri naivitet.“

„Noch sind wir geschockt, aber wir werden unsere Werte nicht aufgeben. Unsere Antwort lautet: mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit. Aber keine Naivität“

Der skandinavische Tauschhandel

„People face trade-offs“ ist eine der goldenen Regeln der Nationalökonomie. Im Austausch mit Menschen aus den nördlichen Nationen Europas scheint es dabei ein ganz besonderes Tauschgeschäft zu geben…

1. Äußerst beEINDRUCKend ist die skandinavische Lässigkeit. Sie ermöglicht auch Gästen wie mir, selbst im Alltag einen Gang zurückzuschalten. Kurze Arbeits- und Öffnungszeiten, ausgedehnte Mittags- und Kaffeepausen und ein absolut entschleunigtes Gehtempo sprechen für sich. Die meistgeladene App in Skandinavien ist eine Entspannungsapp, die Pause im Reichsarchiv beginnt eine Viertelstunde eher als ausgeschildert („Wie, Sie wollen noch Akten bestellen?“) und man merkt, wie einem unnötig hastige Leute zutiefst fremd erscheinen: Ich ertappte mich selbst, wie ich dem Bestellenden einen bösen Blick zuwarf.
Interessant dabei: Trotzdem sind Pünktlichkeit und geregelte Anfangszeiten hier extrem wichtig!

2. Äußerst beDRÜCKEND ist die skandinavische Verschlossenheit. Sie verbaut auch motivierten Gästen, die sich in Sprachabenteuer stürzen, nicht vor kulturellen Opfern zurückschrecken und sichtlich bemüht sind, häufig die Kontaktmöglichkeiten. Skandinavier sind schwer zugänglich – die Debatte, welche Nationalität (Norwegen, Schweden, Finnland – von links nach rechts, die Dänen sind es sicher nicht!) da die Spitze bildet, kann man sich sparen. Klar ist für mich: Zwischen den beiden Punkten besteht ein Zusammenhang!

Ich denke, dass die Lässigkeit auch zu verminderter sozialer Offenheit führt. Die Mühe, auf Fremde einzugehen, wird sich hier nicht von jedem gemacht. Totale Freundlichkeit in Servicesituationen steht einer extremen Lethargie in privaten Austausch gegenüber.
Ein Erfolgsrezept, um diese Verlagerung der Waage und damit beide Seiten zu beheben, gibt es nicht.

Heißt also: Das beste von 1. mitnehmen und immer versuchen bei 2. anzuwenden. Es bleibt ein skandinavisches Tauschgeschäft.

Zum Gesetzesgehalt

Die Regulierungswut der Schweden in Verwaltungsfragen ist weltweit dank der Ikea-Nummern bekannt. Auch das staatliche Alkoholmonopol (System Bolaget) ist ein Begriff. Offiziell wird dies gern mit „in der schwedischen Gesellschaft ist Alkoholkonsum nicht so gern gesehen“ begründet. Doch das stimmt nicht.

Das erste Thema in Gesprächen sind häufig die Alkoholpreise in Deutschland: Schweden kommen diese anscheinend wie ein Paradies vor! Selbst wenn man sich nach einigen Wochen Aufenthalt vorgenommen hat, keine Preise mehr umzurechnen, das hohe Preisniveau einfach zu akzeptieren – es ist schwierig: Denn von Schweden selbst wird man darauf angesprochen.

Nun hat sich zu diesem Thema eine juristische Veränderung getan: Der staatliche Alkoholmonopolträger „Systembolaget“ testet den Lieferservice nach Hause. Nach der günstigen Platzierung von Läden an der norwegischen Grenze (denn dort sind die Alkoholpreise noch höher), eine weitere Farce, wo man doch angeblich auf den Schutz der Bevölkerung vor Alkohol wert legt. Dennoch:

Öffentliche Begeisterung.

Ein anderer spektakulärer juristischer Fall sorgt ebenfalls für Aufsehen:

Nach einem feuchtfröhlichen Abend war ein Familienvater nach dem Ausstieg aus einer Stockholmer U-Bahn in das Schienenbett gestürzt und bewusstlos liegengeblieben. Der offenbar einzige Zeuge sprang kurzentschlossen hinterher, raubte den Familienvater aus und ließ ihn dort liegen. Er wurde von der nächsten U-Bahn überrollt und überlebte wie durch ein Wunder.

Der Täter wurde gefasst. Überraschend ist nun aber, welcher Tat er beschuldigt wird: „Schwerer Raub“. „Unterlassene Hilfeleistung“ existiert im schwedischen Recht nicht – und wird auch jetzt kaum öffentlich eingefordert.

Apathie.

Verbesserung: Ich bin auf ein ausgesprochen gutes Rätsel „Radio Schwedens“ (deutschsprachiger Nachrichten-Podcast des öffentlich-rechtlichen Rundfunks Schwedens) hereingefallen und hatte ursprünglich eine andere alkoholbezogene Gesetzesänderung thematisiert. Obwohl sich die Diagnose nicht ändert, freilich ein krasser Fehler, für den ich mich hier entschuldigen möchte.

Der schiefe Turm in Finnland

Was hat er nicht alles ausgelöst in Deutschland: der „Pisa-Schock“. Und wer erinnert sich noch, welches Land in der Gesamt- und den meisten Einzelkategorien am besten abgeschnitten hat? Richtig, Finnland.

Wenn man nun mit Finnen über den Test spricht, eröffnet sich Erstaunliches: Alle kennen ihn und erinnern sich an die Ergebnisse. Aber vor allem, weil es einer der wenigen Fälle (abgesehen von Nokia-Telephonen, Eishockey und verrückten Filmen) war, in denen Finnland welt- oder zumindest europaweit wahrgenommen wurde. Sie verbuchen es mehr als einen Prestigeerfolg. Was überhaupt nicht mitschwingt: Stolz auf ihr Bildungssystem.

Und der scheint auch gar nicht angebracht: Nun ist Schwedisch die offizielle zweite Landessprache Finnlands. Im Süden gibt es schwedischsprachige Gebiete, was zu einer interessanten Konsequenz führt: ALLE Finnen müssen Schwedisch als Fremdsprache lernen.

Das ist nicht nur deshalb schwierig, weil Finnisch bekanntermaßen aus der skandinavischen Reihe fällt und der finno-ugrischen Sprachfamilie angehört, sondern auch, weil es offenbar in einer hoffnungslos veralteten Art und Weise unterrichtet wird. Vokabel- und Grammatiklernen ja, Sprechen nein. Und das, wo es wegen der Sprachunterschiede gerade so wichtig wäre.
Wenn man ihnen nun aus deutscher Perspektive von der entstandenen Reformwut berichtet, stößt man nicht nur auf Unglauben, sondern geradezu Ironie: „Wegen dieses nichtssagendes Testes?“
Ja…

„Deutschland“ als Antwort

„Es gibt keine Grenzen mehr?“ Zumindest könnte man das anhand der Masse der Deutschen in Stockholm denken. Das gilt nicht für sämtliche Bereiche der Innenstadt und es… soll hier nicht bewertet werden. Denn ich versuche es genau andersherum: Wie sehen „die“ Schweden „die“ Deutschen?

Natürlich gelten meine Beobachtungen nicht als Verallgemeinerungen: Wie sollten sie auch diesen Anspruch erheben? Ich werde vielmehr versuchen, etwas von dem zu akkumulieren, was sich mir gegenüber zugetragen hat. Zufällige Begebenheiten also. Aber was ist schon Zufall?

Aufgrund der Allgegenwart deutscher Menschen in Stockholm, ist man vielleicht gerade hier an der richtigen Stelle, um ein paar typische Bilder aufzuschnappen, die in Schweden über Deutsche kursieren: Und sie sind überraschend positiv! Deutsche gelten als ordentlich, pünktlich, verlässlich und nicht zu aufdringlich. Hört man viele Deutsche darüber klagen, dass sie mit Schweden nicht übereinkommen können, scheint es aus der anderen Perspektive genau verkehrt.

Natürlich werden gerne (historische) Stereotype der kämpfenden Nation bemüht. Schweden scheinen aber insgesamt unfassbar stolz zu sein, ihre eigene Mentalität der deutschen nicht so fern zu glauben. Geradezu Begeisterung ist spürbar, wenn beispielsweise über die sprachlichen Ähnlichkeiten gewitzelt wird.

Und es kommt in vielerlei Gesprächen zum Ausdruck, wenn auf die Frage nach dem interessantesten (Aus-)Land fast immer Deutschland die Antwort ist. Und ich meine nicht nur Berlin! Wer hätte das gedacht, dass „Deutschland“ überhaupt auf etwas eine Antwort sein kann? Oder anders formuliert: Manche Schweden verhalten sich wie Deutsche.