Die verschlossene Offenheit

Natürlich sind auch die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten längst nicht mehr so universell und waren nie, wie sie gemacht werden. Auch in Schweden klafft die Schere zwischen Arm und Reich unendlich weit auseinander. In Stockholm ist das nicht zuletzt an der Wohnverteilung in den Stadtvierteln ersichtlich. Das im ehemaligen Arbeiterviertel oder der ehemaligen Arbeiter“insel“ – das ist sicher DER Unterschied Stockholms zu anderen Städten – Södermalm mittlerweile Szeneboutiquen, Bars und Clubs zu finden sind, ist natürlich ein stinknormaler Gentrifizierungsprozess.

Trotzdem spricht man weiterhin allenthalben von der „Offenheit“ der skandinavischen Menschen. Doch was bedeutet das genau? Ist ein Land, in dem es für finanziell schwächere Schichten unheimlich schwierig ist, die Innenstädte aufgrund des Preisniveaus überhaupt zu betreten, noch als offen zu bezeichnen? Ich möchte gerne ein Beispiel geben.

Auf dem Campus habe ich in der vergangenen Woche einen Pfandsammler getroffen. Nicht weiter verwunderlich, das erlebt man auch in Hamburg. Doch dieser Pfandsammler bewegte sich nicht draußen auf den Plätzen, sondern in der Universitätsbibliothek – in Deutschland undenkbar. Zufall in Schweden?

Dazu habe ich versucht, die Reaktion der Umgebung zu beobachten. Und die Betonung liegt auf „versucht“. Denn es gab keine Reaktion. Der Pfandsammler wurde einfach in Ruhe gelassen, genau wie er die Studenten in Ruhe ließ. Die skandinavische Offenheit ist also eigentlich eine Verschlossenheit dem nächsten Gegenüber. Klingt nicht einleuchtend?

Nun, es gibt hier den „Taxeringskalender“, der jedes Jahr veröffentlicht wird. Dort kann die Einkommenssteuer jedes Schweden nachgeschlagen werden. Ich könnte also herausfinden, was mein Nachbar verdient – wenn ich wollte. Bei diesem Gedanken sehe ich eine Menge Leute die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.

Doch das ist der Weg: Da ich mich nicht auf meinen Nächsten fokussiere, sondern auf mich, erlaube ich ihm seine Freiheit. Das ist verschlossene Offenheit.

Andererseits erklärt das aber auch, warum so viele Ausländer davon berichten, wie schwer es ist, mit Schweden privat in Kontakt zu treten.

Ein Gedanke zu „Die verschlossene Offenheit

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